Niemals nachlassen

Für Milan Hosseini läuft sein erstes Jahr als Aktiver ungewohnt – ohne Wettkämpfe und mit einer Corona-Pause in der Heimat.
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Milan Hosseini aus Flein trainiert am Stützpunkt in Berlin und wechselt als Aktiver in die Trainingsgruppe seines besten Freundes

Das Gefühl ist wichtig. Den Körper spüren und das nicht nur irgendwie. Es geht um das gute Gefühl fürs Gerät, das sich so verflucht schnell verflüchtigt, wenn die filigranen, automatisierten Bewegungsabläufe nicht permanent trainiert werden. Um erst gar nicht in diese Problemspirale zu geraten, nimmt Milan Hosseini einen Turnpilz mit nach Hause. Jenes Übungsgerät der Turner, mit dem sie Kreisflanken trainieren oder – eine Pausche eingesetzt – Übergänge am Pauschenpferd simulieren.

Kleiner Trick, große Wirkung. „Als ich nach fünf Wochen wieder in Berlin mit dem Training angefangen habe, bin ich schon im Rhythmus gewesen“, sagt Milan Hosseini. Auch, weil sich der 18-Jährige zuvor mit Annett Wiedemann in Sontheim-Ost fit gehalten hat. Die Leiterin der Turn-Talentschule der TG Böckingen ist es, die ihm mit Sechs die ersten Übungen beibringt.

Ungewohnt Corona und die Folgen. Die Pandemie trifft auch Milan Hosseini. Weil das Internat auf dem Trainingsgelände des Sportforum Berlin schließt, kommt er für fünf Wochen wieder nach Hause. Nach Flein. Ein ungewohntes Gefühl für einen, der als 14-Jähriger auszieht, um in der Hauptstadt seinen sportlichen Traum zu leben. Hier sind täglich bis zu sechs Stunden Leistungssport besser mit der Schule zu koordinieren. Zeit für Hobbies bleibt auch in Berlin nicht – abgesehen von gelegentlichen Trips in die City mit den anderen Turnjungs.

Wie Daniel Wörz. Die Zwei sind beste Freunde. Als kleine Buben lernen sie sich kennen, in Berlin werden sie zu einem eingeschworenen Team. Zu wissen, dass auf den Anderen auch in Zeiten des sportlichen Tiefs Verlass ist, schweißt zusammen. Besonders, weil beide wissen, wie körperlich hart und mental fordernd ihre Leidenschaft ist.

„Milan ist immer für mich da, sehr offen und hilfsbereit“, sagt Daniel Wörz über seinen Kumpel, dem auch im Training der Schalk im Nacken sitzt. Wenn alles klappt, gründen sie bald eine Wohngemeinschaft. Bei aller Mehrarbeit, macht sie der Auszug aus dem Internat selbstständiger und erleichtert es ihnen, auf eine gesunde Ernährung zu achten. Sie ist ein wichtiger (Erfolgs-)Baustein in ihrem von Disziplin und Fleiß geprägten Sport.

Nachlassen gibt es im Turnen niemals. Auch die Anforderungen an Milan Hosseini steigen. Besonders jetzt, nachdem er der Juniorenklasse entwachsen ist und die erste Saison als Aktiver angeht. „Eine schwierige Klippe“, sagt sein Trainer Sascha Münker. Die Kür an den einzelnen Geräten wird länger und damit anstrengender, es kommen zwei Elemente hinzu. Die Konkurrenten stärker, obendrein noch zahlreicher. „Die Älteren haben viel mehr Trainingserfahrung, da ist es schwerer, sich zu beweisen“, meint Milan Hosseini. „Aber ich kann ohne Druck turnen, schließlich habe ich nichts zu verlieren.“

Abgeliefert Im Dezember überzeugt der Elftklässler bei der Kaderüberprüfung, schafft es somit, im Perspektivkader zu bleiben – auch bei den Senioren. „Es ist super gelaufen“, sagt Milan Hosseini und in seiner Stimme schwingt Stolz mit.

Er muss liefern, weil er sich Monate zuvor beim Abschlusstraining für die deutschen Meisterschaften am Daumen verletzt und nur an zwei von sechs Geräten antritt. Den Titel am Boden, wo er ob seiner zierlichen Statur seine Stärken ideal ausspielen kann, vermag er nicht zu verteidigen. Hosseini wird Vierter. „Es war eben nicht so eine Raketenmeisterschaft ohne Fehl und Tadel und mit Medaillen wie 2018“, sagt Sascha Münker. Auch, weil Milan Hosseini zuvor mit Wachstumsschwierigkeiten und Problemen am Handgelenk kämpft.

Mit den Sommerferien in Berlin hat der 18-Jährige, dessen Vater aus Afghanistan stammt, die Trainingsgruppe gewechselt. Kein ungewöhnlicher Vorgang. Nach zwei Jahren bei Sascha Münker, der seinem Athleten ein gutes Sozialverhalten bescheinigt, hört Milan Hosseini nun auf die Anweisungen von Brian Gladow. „Es wird eine Umstellung, ich bin gespannt“, sagt Milan Hosseini und betont, dass er mit den anderen Turnern gut klar komme. Darunter ist auch Daniel Wörz.

Teil des Sporthilfe-Perspektivteams zu sein, ist für Milan Hosseini „eine große Ehre“, wie er es ausdrückt. Und weil während der Corona-Wirren im stundenweisen Online-Unterricht selbst für einen guten Schüler wie ihn nicht alle Lerninhalte hängengeblieben sind, überlegt er, einen Teil seiner finanziellen Unterstützung für Nachhilfe zu nutzen. Einen anderen für eine zielgerichtete Vorbereitung auf die deutschen Meisterschaften. Die sind derzeit für November geplant.