Die Freiheit Afrikas und der Schock danach

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SCHWIMMEN Der Neckarsulmer Freistilspezialist Henning Mühlleitner erlebt eine unbeschwerte Zeit in Ghana und zieht mit 15 ins Internat

An die Zeit in Sunyani erinnert sich Henning Mühlleitner gut. Unbeschwert und frei ist sie für den Buben. Die Tage verbringt er bei den Nachbarn, erst abends kommt der Steppke verdreckt wieder nach Hause. „In den drei Jahren habe ich mir alle Krankheiten von Windpocken bis Malaria eingefangen“, sagt Henning Mühlleitner – und ist seinen Eltern doch sehr dankbar, dass sie ihn nicht überbehütet, stattdessen drei Jahre lang ein Leben mit den Einheimischen ermöglicht haben. Einzig, dass von den gelernten Worten in Twi, einer der ghanaischen Amtssprachen, nichts hängengeblieben ist, ärgert den 22-Jährigen heute.

Mit fünf folgt der Schock. Weil der Job des Vaters als Entwicklungshelfer in Afrika 2002 endet, kommt Henning Mühlleitner in Deutschland in die Schule. Er ist schüchtern, weil alles neu für ihn ist und er nur Englisch spricht. Da ihn die Lehrerin als verhaltensauffällig einstuft, kommt der Junge in den Kindergarten. „Es war die Hölle für mich. Wie unzivilisiert die waren im Vergleich zu Afrika. Ich bin sogar so weit zu sagen, ich schicke mein Kind nicht in den Kindergarten“, sagt Henning Mühlleitner und lächelt.

Geprägt Er hat die Phase gemeistert. Wie bisher so viel in seinem Leben. Gleichfalls geprägt hat die Zeit in Saarbrücken. Mit 15 entscheidet Henning Mühlleitner selbstständig nach einer Probewoche, ins Internat zu ziehen. Das Schwimmtalent trainiert fortan bei Hannes Vitense. Als die Eltern kurz darauf für zwei Jahre nach Äthiopien gehen, bleibt der Teenager allein am Stützpunkt. „Da musste ich eigenständig werden“, sagt Henning Mühlleitner. Er sucht sich Mentoren. Seine größte Stütze im sportlichen wie im privaten Umfeld ist Hannes Vitense, der jetzige Bundestrainer. „Er war eine extreme Bezugsperson, ihn konnte ich immer um Rat fragen.“

Heute wohnen sie um die Ecke. In Neckarsulm. Im Sommer 2017 wechselt Henning Mühlleitner zur Neckarsulmer Sport-Union. Der Freistilspezialist ist begabt. Nur ein Jahr später feiert er seinen bisher größten Erfolg. Bronze bei den Europameisterschaften in Glasgow über die 400 Meter. Sein erster Gratulant ist Deutschlands derzeit Bester und Bekanntester der Szene, Florian Wellbrock. Ein guter Freund. In der Mixed-Staffel gewinnt Henning Mühlleitner mit Jacob Heidtmann, Reva Foos und Vereinskollegin Annika Bruhn zudem Premieren-Gold. Ein besonderer Moment.

Allerdings hat die Corona-Pandemie auch den Zeitplan der Schwimmer massiv durcheinander gebracht. Keine Wettkämpfe, keine Qualifikationen, keine Meisterschaften. Das sorgt auch bei dem Studenten der Wirtschaftsinformatik an der Hochschule Heilbronn für einen mentalen Knick – schon vor der siebenwöchigen Zwangspause. Überlegungen, wie das enden soll, bleiben nicht aus. Die Ungewissheit mündet in Nervosität. „Das Argument, man habe doch immer ein langfristiges Ziel, das zieht nicht so, wenn es nicht greifbar ist“, sagt Henning Mühlleitner. Immerhin: Seit wenigen Tagen trainieren die Neckarsulmer Spitzenathleten mit dem Unterländer Sportler des Jahres 2018, der stolzes Mitglied des Sporthilfe-Perspektivteams ist, wieder im Sportbad Aquatoll. Endlich nicht mehr joggen, um sich fit zu halten. „Das geht auf die Gelenke“, sagt Henning Mühlleitner, „Radfahren habe ich auch probiert, aber das ist noch langweiliger als Kacheln zählen, man glaubt es kaum.“

Alte Form Auch der Neckarsulmer weiß nicht, wie es weitergeht. Sein sportliches Ziel für das besondere Jahr ist dennoch klar: „Für mich ist wichtig, die Zeit zu nutzen, um die alte Form wiederherzustellen“, sagt Henning Mühlleitner. Dorthin, wo er vor seiner Knie-Operation im Oktober 2018 und der langen Pause wegen eines Bakteriums gewesen ist. Vor Corona fühlt er sich endlich wieder gut drauf. Das möchte einer, der zu den Schnellsten der Republik gehört, selbstredend belegen.

Eine neue Erfahrung genießt Henning Mühlleitner seit einigen Wochen. Er ist bei seinem Trainer Chris Hirschmann und dessen Frau Mattika ausgezogen. Raus aus der WG, rein in die erste eigene Wohnung. „Es wird Zeit, meine Eigenständigkeit auszuleben“, sagt Henning Mühlleitner, „und ich fühle mich nicht einsam. Ich kann meinen eigenen Kram machen, das ist sehr angenehm.“ Die Zeit dazu hat er zuletzt – ohne ein schlechtes Gewissen zu haben, das Training oder die wichtige Regeneration kämen zu kurz. So hat die Corona-Krise wenigstens eine positive Seite in seinem Leben parat gehalten.